Tina in China – Ein Beispiel aus meiner Coaching-Praxis

In meinem neuen Blogbeitrag erzähle ich Euch von meiner Klientin Tina, die vor 3 Monaten völlig verzweifelt zu mir kam, weil sich ihr Leben als Expat-Partnerin in China so ganz anders gestaltete, als sie es sich vorgestellt hatte.

Die Ausgangssituation in China

Als ich Tina in unserem ersten Online-Coaching-Termin kennen lernte, ging es ihr gar nicht gut. Mit monotoner Stimme erzählte sie mir, dass sie vor drei Monaten mit ihrem Ehemann und ihrem zehnjährigen Sohn nach China umgezogen war. Ihr Mann wurde als Expatriate von seiner Firma für 3 Jahre nach Peking entsandt, und es stand außer Frage, dass sie und ihr 12-jähriger gemeinsamer Sohn Julian mitkommen wollten. Zunächst hat sich Tina auch auf ihr Leben auf der anderen Seite der Welt gefreut und sich begeistert in die Vorbereitungen gestürzt. Von der gemeinsamen Wohnung in Peking über die Anmeldung ihres Sohnes in der internationalen Schule und ihre chinesische Haushaltshilfe – Tina hatte alles über eine Relocation Firma perfekt organisiert.

In den ersten Wochen in Peking ging es ihr noch gut. Doch nach und nach begann sie, sich fremd und einsam zu fühlen. Draußen störten sie der Schmutz und der Lärm. Sie fühlte sich unwohl, wenn die Chinesen sie anstarrten. Sie fühlte sich überall beobachtet. Bei ihren Versuchen, sich um alltägliche Dinge wie das Aufladen ihres chinesischen Handys oder der Prepaid-Strom-Karte zu kümmern, kam sie immer unverrichteter Dinge nach Hause. Es machte sie wütend, dass niemand Englisch sprach und sie gewann zunehmend das Gefühl, dass niemand „die Ausländerin“ bedienen wollte. Selbst das Einkaufen auf dem Markt endete jedes Mal damit, dass sich der Verkäufer abwendete und ihr gar nichts mehr verkaufen wollte. Frustriert gab sie all diese Tätigkeiten an ihre chinesische Haushaltshilfe ab und blieb zu Hause. Dort wurden ihr jedoch die Tage unendlich lang. Ihr Sohn war den ganzen Tag in der Schule und kam erst am Abend nach Hause. Am Wochenende traf er sich mit seinen neuen Freunden. Ihr Mann hatte eine verantwortungsvolle Position und leistete am Abend entweder Überstunden oder war zu Veranstaltungen mit seinen Kollegen eingeladen. Auch wenn er das Gegenteil behauptete, hatte Tina das Gefühl, er wollte gar nicht mehr nach Hause kommen und verbrachte absichtlich die Abende mit seinen Kollegen in einer Karaokebar, nur um ihr aus dem Weg zu gehen. Manchmal nahm er sie mit, und Tina versuchte, mit den anderen Ehefrauen in Kontakt zu kommen. Sie hatte ein paar Mal die ein oder andere der chinesischen Frauen zu einem gemeinsamen Kaffee bei sich zu Hause eingeladen, doch alle hatten abgelehnt. Tina begann, schlecht zu schlafen und über Rückenschmerzen zu klagen. Sie fühlte sich einsam, hatte Heimweh und weinte viel. Sie fragte sich, wie sie nur die die nächsten 2,5 Jahre Peking überleben sollte, und buchte ein Coaching bei mir.

Erste Erkenntnisse aus dem künstlerischen Prozess

Zunächst ging es im Coaching darum, dass Tina ihre negativen Gefühle zulassen und ausleben durfte. Es entstanden einige „Wutbilder“, bei deren Erstellung sie ihre Emotionen und Gedanken ordnen konnte. Doch im künstlerischen Prozess zeigte sich noch viel mehr: wir erhaschten einen Blick auf einige der wesentlichen Charakterzüge, die ihre Persönlichkeit ausmachten. Tina war ein energievoller, impulsiver Mensch, der schnell ungeduldig und dann auch mal laut wurde. Gleichzeitig verfügte sie über ein sehr starkes Durchhaltevermögen, war sehr strukturiert und packte gerne Dinge an.
Während der aktiven gemeinsamen Suche nach ihren Bedürfnissen und Werten wurde schnell klar, dass sich Tina bisher in ihrem Leben über ihre Familie definiert hatte. Sie hatte seit ihrer Hochzeit nie gearbeitet, sondern sich stets darauf konzentriert, ihrem Mann den Rücken zu stärken und ihrem Sohn eine richtige Mutter zu sein, die auch Zeit für ihn hatte. Nachdem sie dies erkannt hatte, wurde Tina schnell klar, wo der Hund begraben lag. Ohne ihre Familie war sie nur ein halber Mensch. Ihr Sohn begann, selbständig zu werden. Ihr Mann war nun nicht mehr nur tagsüber, sondern auch an den meisten Abenden und Wochenenden beschäftigt. Sie fühlte sich unwichtig, nutzlos und einsam. Außerdem war sie es gewohnt, Dinge anzupacken und abzuhaken und schaffte es nun noch nicht einmal, einkaufen zu gehen. Hier zeigten sich einige ihrer negativen Glaubensgrundsätze, wie zum Beispiel der Glaube, von ihrem Mann und ihrem Sohn nur geliebt zu werden, wenn sie alles schaffte, was sie sich vorgenommen hatte.

Erkenntnisse aus dem Interkulturellen Training

Parallel zum Coaching lernte Tina im Interkulturelles Training mehr über die chinesische Kultur, deren Werte und Verhaltensweisen, aber auch über die Kommunikation im Reich der Mitte. Wir glichen die daraus erhaltenen Informationen mit den zuvor im Coaching gemachten Erfahrungen ab, stellten gemeinsam Theorien auf und kamen im weiteren Verlauf – auch durch Hausaufgaben wie Gespräche mit den Beteiligten oder der bewussten Wiederholung von Situationen – zu folgenden Ergebnissen:

  1. Tinas Mann war tatsächlich nicht so viel von zu Hause abwesend, weil er sich von ihr abwendete, sondern weil in China das Berufs- und Privatleben nicht so stark getrennt wird und er in Zugzwang war, sich an die Gegebenheiten anzupassen, wenn er im Team akzeptiert werden wollte.
  2. Die anderen Ehefrauen hatten ihre Einladung bisher abgelehnt, weil sie nach chinesischer Sitte höflich sein wollten, während Tina die Prinzipien der in deutschen Kommunikation zu Grunde legte und die Absage als eine wirkliche Absage verstanden hatte.
  3. Als impulsive Persönlichkeit hatte Tina so manches Mal gegen die chinesischen Höflichkeits- und Kommunikationsregeln verstoßen – statt wie in China üblich in einem Gespräch stets ruhig und besonnen zu bleiben, war sie aus Frust, dass niemand sie verstand, das ein oder andere Mal ungeduldig und auch mal laut geworden, was dazu geführt hatte, dass das chinesische Gegenüber kein Interesse mehr daran hatte, ihr zu helfen oder ihr etwas zu verkaufen.

Umsetzung im Alltag

Tina konnte dank der Impulse, die sie im Coaching gewonnen hatte, die vermeintlich persönlichen Angriffe relativieren und erkennen, wie sie die Situationen, die sie belasteten, lösen konnte. Wie es ihre Art war, packte sie die Veränderungen mit viel Energie an:

  1. Die Beziehung zu ihrem Mann entspannte sich durch viele intensive Gespräche. Tina schilderte ihre Erkenntnisse aus dem Coaching und beschrieb ihre Gefühle. Ihr Mann zeigte sich sehr verständnisvoll und versicherte ihr glaubhaft, dass er sich zu keinem Zeitpunkt emotional von ihr entfernt habe, sondern vielmehr zwischen der Verpflichtung seinem Arbeitgeber gegenüber und seinem Wunsch, Zeit mit seiner Ehefrau zu verbringen, stand. Auch liebte er seine Frau nicht, weil sie ihm viel abnahm und viel für ihn tat, sondern aufgrund ihrer Persönlichkeit und ihres Charakters. Die beiden beschlossen, die wenige gemeinsame Freizeit in Zukunft bewusster zu gestalten.
  2. Bezüglich der ausgesprochenen Einladungen passte sich Tina an die chinesischen Gepflogenheiten an und fragte die chinesischen Ehefrauen nicht nur einmal, sondern mehrfach, ob sie sich denn nicht einmal zu einem gemeinsamen Kaffee treffen wollten. Beim dritten Mal sagten ein paar der Damen tatsächlich zu und in einer hat Tina mittlerweile sogar eine gute Freundin gefunden, mit der sie sich regelmäßig trifft.
  3. Tina begann, ihre Haushaltshilfe zu begleiten, wenn diese einkaufen ging oder alltägliche Dinge erledigte. Auf diese Weise lernte sie einige der Abläufe, wie gewisse Dinge in China funktionierten. Außerdem kam sie über ihre Haushaltshilfe, die auch als Dolmetscherin fungierte, auch in Kontakt mit Verkäufern oder Angestellten, die sie bei ihren nächsten Besuchen wieder erkannten und freudig und hilfsbereit auf sie zu gingen. Natürlich kam es manchmal doch zu verbalem Gerangel. Im Gegensatz zu früher bemerkte Tina jedoch, wann ihr Tonfall wieder einmal energischer geworden war und entschuldigte sich sofort. Ihre Haushaltshilfe und die Verkäufer begannen mehr und mehr, dies nicht mehr persönlich zu nehmen und lächelten nachsichtig über ihre „temperamentvolle Langnase“.

Neue Ziele

Tina hat ihr Leben wieder in die Hand genommen und vieles verändert. Sie fühlt sich nicht mehr so müde und ohnmächtig. Voller Tatendrang hat sich für einen Sprachkurs angemeldet und ist neugierig darauf, mehr über die chinesische Kultur und auch die Sprache zu lernen. Außerdem hat sie durch das Coaching heraus gefunden, dass ihr das Malen gut tut und nimmt an einem Online-Malkurs teil. Über den Sprachkurs hat sie andere Menschen kennen gelernt, mit denen sie sich in ihrer Freizeit trifft. Sie fühlt sich nicht mehr so einsam.

Selbstverständlich hat sich nicht alles um 100 Grad geändert. Sie ist immer noch oft frustriert und findet das Leben in China herausfordernd. Und auch wenn es ihr schwer fällt, es zu akzeptieren, ist sie sich der Tatsache bewusst, dass ihr Sohn sie immer weniger brauchen wird und ihr Mann in den nächsten Jahren wenig Zeit für sie haben wird. Auch wenn die längerfristigen Ziele noch nicht ganz klar sind, schaut sie wieder positiv auf ihr Leben und die Zukunft. Zum Abschied sagte sie zu mir:„Es ist Zeit ist, mich endlich einmal zu fragen, was ich in meinem Leben noch erreichen möchte.“

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